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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Correspondence with Marie Steiner
1901–1925
GA 262

Translated by Steiner Online Library

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To Marie von Sivers in Berlin
Tuesday, January 9, 1906, on the way from Zurich to Lugano

January 9, 1906

My darling. I am writing to you on the way from Zurich to Lugano. In Zurich I found a letter from Günther Wagner 3(1842-1930), founder of the Pelikan company in Hanover, cousin and patron of Hübbe-Schleiden, withdrew from the management of his company to Lugano, as chairman of the Lugano branch, he helped found the German section in 1902. Since November 1906, he has been in Berlin as the curator of the Theosophical Library. He wanted to pick me up from the hotel only at 10 o'clock today. If I had traveled during the night, I would have seen Wagner only at 10 o'clock. Now I am coming by train, which left Zurich at 8:20 a.m. and with which I am now traveling, arriving in Lugano at 1:21 p.m. So the difference is not that big. And it was a good thing too. Because yesterday was definitely the best evening in Zurich so far. Even though it was poorly attended due to the terrible weather and many other circumstances. The audience was unusually responsive yesterday. And the mood was so good that it lasted even when a young scholar appeared in the discussion and raised the objections that are so readily found on the street today. This also showed once again what an obstacle the cobweb of learned modern concepts is for an unbiased grasp of spiritual reality. This is only too understandable for real occultism. One has only to consider the nature of this learned world of concepts. It is, after all, entirely derived from spatial-physical reality. Now, the occultist must also make use of these concepts. Only he pours the content of higher experience into them. Those who are trapped in current thought habits only hear what they already know. And so life remains inaccessible to them. The present must pass through this state. And we have the task of giving life from the higher realms of existence to the thought forms taken from physical-spatial reality.

The “impossible” grass, the unified grass, spoke after this man. You know what it says.

If I had had to leave so early yesterday that I could have left at 10:35, it would not have been good. Because the meeting lasted until a quarter past eleven in the most natural way.

As I write this, it is very cloudy and rainy outside. You can't see far. All the mountains are invisible. I drive through the foggy darkness with happy thoughts of my darling.

Now a few business notes: Rietmann has received the box diploma and the few other diplomas from me. He gave me 10 marks for the first one. Then he told me that he had written to you that one of the diplomas sent earlier had been torn, so a duplicate had to be issued for it. Please do that and don't forget to write “duplicate” in the top left corner. Gysi is the anxious person you know him to be. But today you can't blame anyone for that. Because anyone seeking an official position can be sure of finding insurmountable obstacles if it becomes known that they believe in the “nonsense” of Theosophy. And Gysi is supposed to become a lecturer in dentistry at the University of Zurich soon. Anyone who thinks that Switzerland's “freedom” is favorable in such a matter is very much mistaken. Because “freedom” is first of all the possibility for people to develop “freely” in the sense of their abilities. If people are “clever”, then of course “freedom” is one of “cleverness”. But if people are foolish, then we are dealing with “freedom to be foolish”.

Incidentally, Gysi showed me a newspaper clipping about a theater performance in Lausanne: In the “drama” in question, a “witty” satirical “poet” makes fun of Theosophy. The focus of the cute stage play is a family in which the Prozors are ridiculed. They gather a circle of people around them who are intent on remembering their former lives. A son and daughter of the family appear. The son meets a crook in disguise who claims that in a previous existence the young Prozor owed him a large sum of money that he now has to pay. This is how a scam is carried out. The daughter meets an individual who claims to be entitled to her kisses because he was her husband in a previous life. Of course, the “stupid theosophists” fall for the swindle. And they are cured of their “stupidity” when they realize the swindle - dramas must have an end. You can imagine the amount of “humor” that arises when “a ghost speaks to another ghost,” that is, a poetizing philistine to a philistine audience. But all this is yet to come: malicious persecution, philistine ridicule, etc., etc. For we are only at the beginning. With all my heart, come to Munich as a fresh mouse and be greeted warmly by your Rudolf

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An Marie von Sivers in Berlin
Dienstag, 9. Januar 1906, auf der Fahrt von Zürich nach Lugano

9. Januar 1906

Mein Liebling. Es ist auf dem Wege von Zürich nach Lugano, dass ich Dir schreibe. In Zürich fand ich einen Brief von Günther Wagner 3(1842-1930), Gründer der Firma Pelikan in Hannover, Vetter und Mäzen von Hübbe-Schleiden, zog sich von der Leitung seiner Firma nach Lugano zurück, als Vorsitzender des Zweiges Lugano 1902 an der Gründung der deutschen Sektion beteiligt, seit November 1906 in Berlin als Betreuer der Theosophischen Bibliothek. vor, dass er mich heute erst um 10 Uhr vom Hotel abholen wolle. Wenn ich also doch in der Nacht gefahren wäre, hätte ich ja Wagner erst um 10 Uhr gesehen. Nun komme ich mit dem Zuge, der 8.20 von Zürich abgegangen ist, und mit dem ich nun fahre, 1.21 nachmittags in Lugano an. Der Unterschied ist demnach nicht groß. Und es war auch gut so. Denn es war gestern ganz entschieden der beste bisherige Abend in Zürich. Wenn er auch infolge des ganz schlimmen Wetters und mancher anderer Umstände schlecht besucht war. Das Publikum ging gestern in seltener Weise mit. Und die Stimmung war so gut, dass sie selbst anhielt, als ein junger Gelehrter in der Diskussion auftrat, und die so billigen heute auf der Straße liegenden Einwände vorbrachte. Auch da zeigte sich wieder, welch Hindernis das Spinnengewebe gelehrter heutiger Begriffe für ein unbefangenes Erfassen der geistigen Wirklichkeit ist. Das ist für den wirklichen Okkultismus nur zu verständlich. Man muss nur das Wesen dieser gelehrten Begriffswelt betrachten. Sie ist ja ganz und gar nur abgezogen von der räumlich-physischen Wirklichkeit. Nun muss ja der Okkultist sich dieser Begriffe auch bedienen. Nur gießt er den Inhalt der höheren Erfahrung in sie hinein. Der in den gegenwärtigen Denkgewohnheiten Befangene hört nun nur, was er schon kennt. Und so bleibt gerade ihm das Leben unzugänglich. Die Gegenwart muss durch diesen Zustand hindurchgehen. Und wir haben die Aufgabe, den aus der physisch-räumlichen Wirklichkeit entnommenen Gedankenformen Leben aus den höheren Gebieten des Daseins zu geben.

Nach diesem Manne sprach der «unmögliche» Gräser, der einheitliche Gras. Was er sagt, weißt Du ja.

Hätte ich aber gestern schon so früh weggehen müssen, dass ich um 10.35 hätte abfahren können: so wäre es nicht gut gewesen. Denn die Versammlung dauerte auf die natürlichste Art bis ein Viertel nach EIf.

Während ich dieses hier schreibe, ist es draußen ganz trüb und regnerisch. Man kann nicht weit sehen. Alle Berge sind unsichtbar. Ich fahre mit den lichten Gedanken an meinen Liebling durch die Nebel-Dunkelheit.

Nun ein paar geschäftliche Notizen: Rietmann hat von mir das Logendiplom und die paar anderen Diplome erhalten. Für das erste gab er mir 10 Mark. Dann sagte er mir, dass er Dir geschrieben hätte, das eine der früher überschickten Diplome sei zerrissen worden; es müsse also dafür ein Duplikat ausgestellt werden. Bitte tue das und vergiss nicht links oben in die Ecke zu schreiben «Duplikat». Gysi ist der ängstliche Mensch, als den Du ihn kennst. Man kann das aber heute niemand verübeln. Denn wer eine offizielle Stellung anstrebt, kann sicher sein, dass er unübersteigliche Hindernisse findet, wenn es ruchbar wird, dass er an den «Unsinn» der Theosophie glaubt. Und Gysi soll ja demnächst Dozent für Zahnheilkunde an der Züricher Universität werden. Wer meint, dass die «Freiheit» der Schweiz in einer solchen Sache günstig ist, der irrt sich sehr. Denn «Freiheit» ist doch zunächst die Möglichkeit, dass sich die Menschen im Sinne ihrer Fähigkeiten «frei» entfalten. Wenn die Menschen «klug» sind, so ist ja freilich «Freiheit» eine solche der «Klugheit». Wenn aber die Menschen töricht sind, so hat man es doch mit «Freiheit zur Torheit» zu tun.

Übrigens zeigte mir Gysi einen Zeitungsabschnitt über eine Theateraufführung in Lausanne: In dem betreffenden «Drama» macht sich ein «geistreicher» satirischer «Dichter» über die Theosophie her. Im Mittelpunkte des niedlichen Bühnenwerkes steht eine Familie, in denen die Prozors lächerlich gemacht werden. Sie vereinigen einen Kreis von Leuten um sich, die darauf ausgehen, sich ihrer früheren FExistenzen zu erinnern. Nun kommen ein Sohn und eine Tochter der Familie vor. Dem Sohn stellt sich ein verkappter Gauner vor, der vorgibt, dass ihm der junge Prozor in einer früheren Existenz eine größere Summe Geldes schuldig geworden ist, die er jetzt zahlen müsse. So wird eine Prellerei ausgeführt. Der Tochter stellt sich ein Individuum vor, das behauptet, ein Anrecht auf ihre Küsse zu haben, weil er in einem früheren Leben ihr Gatte war. Natürlich fallen die «dummen Theosophen» auf die Gaunereien hinein. Und sie werden - Dramen müssen einen Schluss haben - von ihrer «Dummheit» geheilt, als ihnen die Gaunereien klar werden. Man kann sich denken, welche Unsumme von «Komik» das gibt, wenn so «ein Geist zum andern Geist» spricht d.h. ein dichtender Philister zu einem philiströsen Publikum. Alles wird aber noch kommen: böswillige Verfolgung, philiströse Lächerlichmachung usw. usw. Denn wir sind doch erst im Anfang. In aller Herzlichkeit, komme nach München als frische Maus und lass Dich dort schönstens begrüßen von Deinem Rudolf