Collected Letters: Vienna
1879–1890
GA 38/I
11 August 1881, Oberlaa
Translated by Steiner Online Library
12. To Rudolf Ronsperger
My dearest friend!
I would have liked to reply immediately after receiving your letter yesterday morning, but I was unable to do so; I cannot explain why. I was delighted that you found the schoolmaster's two little poems so favorable. Although we hold opposing views on many things, we are in complete agreement on this point. I would like to tell you more about this man, but on the one hand this would lead to great digressions, and on the other hand it would be better to do so after I have gathered more information about this charming person. I will just quote his excellent definition of poetry:
"Poetry is the herald of God's unnameable love. It is a natural, sweet, devout, and mysterious prayer, and the spirit of the person who understands this prayer must involuntarily pray along, for he is carried away to his Creator.” Here this man—a village schoolteacher who is otherwise generally devoid of any higher education—says the same thing that the greatest aesthetes of his kind have said. I dare to prove the truth of this last remark. Your two little poems are equally delightful to me. I definitely prefer the second one to the first. The indifference dispelled by a deeper feeling is what makes it genuinely poetic. I believe I have already told you that Heine, even though he has many good qualities, is repugnant simply because he takes the opposite path, dishonoring a noble sentiment with a mocking remark. I consider this “Geigers Herzeleid” to be the best I have seen from you so far. Continue along this path, and you will certainly be able to present us with many beautiful blossoms. My heartfelt thanks for sharing this little poem with me. As for the first one, “Herbsttraum” (Autumn Dream), I feel that something is missing after the fourth stanza; for me, the thought is completely unfinished. The last stanza, on the other hand, does not belong to the whole; by trying to turn the dream into reality, you spoil the whole impression and the thing becomes unnatural. I have no doubt that the choice of subject matter for your new tragedy is a fortunate one. You say that you could find no suitable subject matter for a tragedy in German history. This is quite understandable to me. If I were to give a brief explanation of the reason, I would say that German heroes may well suffer catastrophe, but in most cases they are not to blame. But more of that another time. I intend to read Milton's M shortly.
And now to another chapter. I beg you, I really beg you, to throw away Büchner and similar nonsense, forget everything that is written in it, for it is all lies. With each passing day, I am more amazed at how such nonsense can find such favor. I have good reason to give you this advice. For I assure you that our entire age is suffering from the fact that it has broken away from religion, which is in itself free of contradictions, and has devoted itself to a shallow enlightenment and enlightenment pedantry, and cannot rise to the teachings of philosophy, which are again free of contradictions and completely satisfying to both reason and the heart. Religion and philosophy both reconcile us with the world; shallow enlightenment alone creates disharmony. Therefore, I beg you once again not to believe everything that Büchner, Dühring, and their ilk claim; read other popular philosophical writings, e.g., Fichte's “Determination of Man” (Univ. Bibl.), and his “Addresses to the German Nation” (ibid.). When you have read them, you will perhaps understand the reason why I advised you to do so; it is, however, a weighty one. Without basing my sense of justice on revenge, as Dühring does, I would declare “Force and Matter,” especially since yesterday morning, to be a philosophical heresy, etc. ...—
I am convinced that if you follow my sincere advice, you will soon say: The doctor from Budapest is welcome to have me. For the time being, of course, you will not be able to imagine this possibility. The idea you wrote on the last page is quite good, and I will certainly carry it out; but please tell me what kind of disposition your father has.
With warmest regards, I look forward to your prompt reply. Your unchanging friend,
Rudolf Steiner.
Tradition: Original (4 pp., 1 double sheet), RSA; gift from Christoph Koller, Bern (2010), from the estate of Rudolf Koller, Zurich; printed in GA 38 (1985), pp. 26-28; reply to letter dated: before Aug. 10, 1881 (not available); replied on: before Aug. 16, 1881 (not available)
People: Johann Wurth; Heinrich Heine; [Thomas Babington Macaulay]; Ludwig Büchner; Eugen Dühring; Johann Gottlieb Fichte; (Budapest doctor); Felix Ronsperger
Literature: Thomas Babington Macaulay: “On John Milton,” in: The Edinburgh Review, August 1825; Ludwig Büchner: Kraft und Stoff (Force and Matter). Empirical-natural philosophical studies. In a generally comprehensible presentation, Frankfurt a.M. 1855; Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen (The Destiny of Man); Speeches to the German Nation, Leipzig [1879]
12. An Rudolf Ronsperger
Mein liebster Freund!
Gerne hätte ich, nachdem ich gestern morgens Ihren Brief erhielt, also gleich geantwortet, doch ich konnte nicht; den Grund vermag ich nicht anzugeben. Daß Ihr Urteil über die beiden Gedichtchen des Schulmeisters so günsug ausgefallen ist, erfreute mich ungeheuer. Sind wir in manchen Dingen auch entgegengesetzter Ansichten, hier stimmen wir vollständig überein. Ich würde Ihnen gerne mehreres über diesen Mann mitteilen, doch würde dies einerseits diesmal zu größten Weitläufigkeiten führen, andrerseits wird es besser sein, wenn ich das tue, nachdem ich die Sammlung meiner Daten über diese liebliche Erscheinung werde vermehrt haben. Nur noch seine vortreffliche Definition der Poesie will ich anführen:
„Poesie ist die Verkünderin der unnennbaren Liebe Gottes. Sie ist ein natürliches, süßes, andächtiges und geheimnisvolles Gebet und desjenigen Menschen Geist, welcher dieses Gebet versteht, muß unwillkürlich mitbeten, denn er wird zu seinem Schöpfer hingerissen“. Hier sagt dieser Mann — denken Sie, ein Dorfschullehrer, der sonst in der Regel aller höheren Bildung bar ist - dasselbe, was die größten Aesthetiker in ihrer Art auch sagten. Die Wahrheit dieser letzten Bemerkung, „getraue ich mir zu beweisen“.
Ebenso erfreuliche Erscheinungen sind mir nun auch Ihre beiden Gedichtchen. Das zweite ist mir entschieden lieber, als das erste. Die durch eine tiefere Empfindung vertriebene Gleichgiltigkeit ist daran das echt poetische. Ich glaube schon einmal Ihnen gegenüber gesagt zu haben, daß Heine, wäre auch sonst manches Gute an ihm, schon deshalb widerlich ist, weil er den entgegengesetzten Weg einschlägt; eine edlere Empfindung durch eine spöttische Bemerkung verunehrt. Ich halte dieses „Geigers Herzeleid“ für das beste, was ich bisher von Ihnen gesehen habe. Fahren Sie auf diesem Wege fort, so werden Sie gewiß manch schöne Blüte uns zu schenken in der Lage sein. Meinen herzlichen Dank für die Mitteilung dieses Gedichtchens. Was aber das erste anbetrifft „Herbsttraum“, so vermiße ich sehr stark nach der vierten Strophe irgend etwas, es ist für mich der Gedanke völlig unabgeschlossen. Die letzte Strophe dagegen gehört nicht zum Ganzen; dadurch, daß Sie den Traum zu einer Wirklichkeit machen wollen, verderben Sie den ganzen Eindruck und die Sache wird unnatürlich.
Daß die Wahl des Stoffes zu Ihrem neuen Trauerspiele eine glückliche ist, daran will ich gerade nicht zweifeln. Sie sagen, daß Sie in der deutschen Geschichte keinen geeigneten Stoff fänden zu einem Trauerspiele. Dies ist mir ganz erklärlich. Soll ich die Ursache in Kurzem angeben, so möchte ich sagen: bei den deutschen Helden ist wol die Katastrophe, aber in den meisten Fällen nicht die Schuld vorhanden. Doch davon einmal mehr. M’s Milton werde ich demnächst lesen.
Und nun zu einem andern Kapitel. Ich bitte Sie, werfen Sie - ich bitte Sie wirklich herzlich - den Büchner und dgl. dummes Zeug von sich, vergessen Sie alles, was darinnen steht; denn dies ist ja so alles erlogen. Ich staune mit jedem "Tage mehr, wie solches Geschwätz soviel Anklang finden kann. Ich habe meinen guten Grund dazu, Ihnen solch einen Rat zu geben. Denn ich versichere Sie, es krankt unsere ganze Zeit daran, daß sie sich von der an sich widerspruchslosen Religion losgemacht, einer seichten Aufklärung und Aufklärerei hingegeben und sich bis zu den wieder widerspruchslosen, Vernunft wie Herz völlig zufriedenstellenden Lehren der Philosophie nicht aufschwingen kann. Die Religion wie die Philosophie söhnen gleicherweise mit der Welt aus; die seichte Aufklärung ganz allein erzeugt Disharmonien. Darum, ich bitte Sie nochmals, glauben Sie alles nicht, was Büchner, Dühring und Consorten behaupten; lesen Sie andere populäre philosophische Schriften z.B. Fichtes Bestimmung des Menschen (Univ. Bibl.), desselben Reden an die deutsche Nation (ebd.). Sie werden, wenn Sie das gelesen haben den Grund, den ich hatte Ihnen solches anzurathen vielleicht einsehen; jedoch ist derselbe ein gewichtiger. Ohne mein Rechtsgefühl wie Dühring auf Rache zu gründen möchte ich „Kraft und Stoff“ insbesondere seit gestern früh für ein philosophisches Ketzerwerk erklären etc. ...—
Ich bin überzeugt, daß, wenn Sie meinen wirklich aufrichtigen Rat befolgen, bald sagen werden: Der Budapester Arzt kann mich gerne haben. Jetzt einstweilen werden Sie sich freilich die Möglichkeit davon nicht recht vorstellen können. Ihr auf das letzte Blättchen geschriebener Einfall ist recht gut und ich werde ihn jedenfalls ausführen; doch bitte ich mir doch nur zu sagen, von welcher Gemütsart Ihr H. Vater ist.M.p>
Mit dem freundschaftlichstherzlichen Gruße wartet auf baldige Antwort Ihr unveränderlicher
Rudolf Steiner.
Überlieferung: Original (4 S., 1 Doppelblatt), RSA; Geschenk von Christoph Koller, Bern (2010), aus dem Nachlass von Rudolf Koller, Zürich; Druck: GA 38 (1985), S. 26-28; Antwort auf Zuschrift vom: vor 10. Aug. 1881 (nicht vorliegend); beantwortet am: vor 16. Aug. 1881 (nicht vorliegend)
Personen: Johann Wurth; Heinrich Heine; [Thomas Babington Macaulay]; Ludwig Büchner; Eugen Dühring; Johann Gottlieb Fichte; (Budapester Arzt); Felix Ronsperger
Literatur: Thomas Babington Macaulay: «On John Milton», in: The Edinburgh Review, August 1825; Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemein-verständlicher DarstelJung, Frankfurt a.M. 1855; Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen; Reden an die deutsche Nation, Leipzig [1879]