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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Collected Letters: Vienna
1879–1890
GA 38/I

24 July 1881, Vienna

Translated by Steiner Online Library

9. To Josef Köck (?)

Dear friend!

Was Du verbrochen hast? Du würdest es ja wol selbst wissen, wenn Du etwas verbrochen hättest. Wenn Du aber erst fragst, so weißt Du wahrscheinlich von nichts. Nun was ist die Folge? Der Grund meines Nichtschreibens liegt auch gar nicht darinnen. Er liegt vielmehr darinnen, daß ich gar zu derlei Sachen nicht kommen kann. Kommst Du einmal zu dem guten Schober,1Rudolf Schober (1863–1948) attended the Landesoberrealschule Wiener Neustadt (secondary school) together with his friend Josef Köck, where they were taught by Rudolf Steiner, who was a friend of both boys. From autumn 1880, Schober also studied at the Technical University in Vienna, where he often met Rudolf Steiner. so kannst Du ihn fragen: wie wenig ich zu sehen bin. Es ist dies sehr natürlich. Ich bin durchaus kein Mensch, der in den Tag hinein lebt, like an animal in human form, sondern ich verfolge ein ganz bestimmtes Ziel, ein ideales Ziel, die Erkenntnis der Wahrheit. Nun kann man diese aber keineswegs im Sprunge erhaschen, sondern es bedarf dazu gerade des allerredlichsten Strebens von der Welt, eines Strebens, das frei von Selbstsucht, aber eben auch frei von Resignation ist. Und Du weißt es wol, daß auch Lessings Streben von der letzteren keineswegs frei war. Die Hindernisse zur freien Vollkommenheit und zur ächten Weisheit sind so große, daß man sich dieselben kaum vorstellen kann. Die Wissenschaften sind voll von frills and pedantry, die einen gesunden Geist abstoßen. Denn, das weißt Du ja wohl, daß Bücher nicht immer aus Neigung geschrieben werden, um die Wahrheit zu erkennen und zu verbreiten und ich versichere Dich, wenn der leiseste Zug von einem nicht nach Wahrheit Streben vorhanden ist, dann ist alles Reden von derselben ein Kauderwelsch und eine Narredei. Das Böse ist nur, daß die socialen Zustände derart sind, daß man sich die Schnörkeleien neben dem Wahren auch aneignen muß, übrigens verlangts ja auch das Pflichtgefühl, denn man kann was nur dann beurteilen, wenn man’s kennt. Will man behaupten, daß etwas stinkt, so muß man dazu gerochen haben.

What are you preoccupying yourself with now? I beg you, don't torment yourself with unattainable ideals, but strive for what is achievable. For I assure you, there is always something curiously self-satisfied about babbling about unattainable ideals. I also strive for ideals—this word understood in its noblest sense—but, mind you, for what is achievable. I hinted at this above. Don't curse people too much and don't be pessimistic. I can only tell you that it is often completely unfounded to complain about the wickedness of people, because most of the time it is not wickedness that causes us suffering, but pure stupidity, and we cannot blame anyone for that. —

Write to me soon at the following address:

kk. Technical University – Vienna.2See note on letter no. 3

Meanwhile, best regards.

Yours sincerely,
Rudolf Steiner.

Source: Original (3 pp., 1 double sheet), RSA;

Print: Br I, pp. 67-69 GA 38 ‹1985›, pp. 16-18

People and institutions: Rudolf Schober; Gotthold Ephraim Lessing; Imperial Technical University in Vienna

Places: Vienna

About this letter: The 1 at the end of the year 1881 is written slightly differently than usual by Rudolf Steiner and could possibly also be read as an O, in which case the letter would date from July 24, 1880.

9. An Josef Köck (?)

Lieber Freund!

Was Du verbrochen hast? Du würdest es ja wol selbst wissen, wenn Du etwas verbrochen hättest. Wenn Du aber erst fragst, so weißt Du wahrscheinlich von nichts. Nun was ist die Folge? Der Grund meines Nichtschreibens liegt auch gar nicht darinnen. Er liegt vielmehr darinnen, daß ich gar zu derlei Sachen nicht kommen kann. Kommst Du einmal zu dem guten Schober,1Rudolf Schober (1863–1948) besuchte, zusammen mit seinem Freund Josef Köck, in der Landesoberrealschule Wiener Neustadt die Klasse unter Rudolf Steiner, der mit beiden befreundet war. Schober studierte ab Herbst 1880 auch an der Technischen Hochschule in Wien, wo er Rudolf Steiner öfters begegnete. so kannst Du ihn fragen: wie wenig ich zu sehen bin. Es ist dies sehr natürlich. Ich bin durchaus kein Mensch, der in den Tag hinein lebt, wie ein Tier in Menschengestalt, sondern ich verfolge ein ganz bestimmtes Ziel, ein ideales Ziel, die Erkenntnis der Wahrheit. Nun kann man diese aber keineswegs im Sprunge erhaschen, sondern es bedarf dazu gerade des allerredlichsten Strebens von der Welt, eines Strebens, das frei von Selbstsucht, aber eben auch frei von Resignation ist. Und Du weißt es wol, daß auch Lessings Streben von der letzteren keineswegs frei war. Die Hindernisse zur freien Vollkommenheit und zur ächten Weisheit sind so große, daß man sich dieselben kaum vorstellen kann. Die Wissenschaften sind voll von Schnörkeleien und Pedanterien, die einen gesunden Geist abstoßen. Denn, das weißt Du ja wohl, daß Bücher nicht immer aus Neigung geschrieben werden, um die Wahrheit zu erkennen und zu verbreiten und ich versichere Dich, wenn der leiseste Zug von einem nicht nach Wahrheit Streben vorhanden ist, dann ist alles Reden von derselben ein Kauderwelsch und eine Narredei. Das Böse ist nur, daß die socialen Zustände derart sind, daß man sich die Schnörkeleien neben dem Wahren auch aneignen muß, übrigens verlangts ja auch das Pflichtgefühl, denn man kann was nur dann beurteilen, wenn man’s kennt. Will man behaupten, daß etwas stinkt, so muß man dazu gerochen haben.

Womit beschäftigst Dich denn Du jetzt? Ich bitte Dich, quäle Dich nicht mit unerreichbaren Idealen ab, sondern strebe nach Erreichbaren. Denn ich versichere Dich, es ist bei dem Faseln von unerreichbaren Idealen immer etwas curios Selbstgefälliges dabei. Ich strebe auch nach Idealen - dieses Wort im edelsten Sinne verstanden, aber wolgemerkt nach Erreichbaren. Oben deutete ich es an. Fluche Du auch nicht viel über die Menschen und sei nicht Pessimist. Ich kann Dir nur sagen, daß es oft ganz unbegründet ist über die Bosheit der Menschen zu schelten, denn meist ist es nicht Bosheit, durch was uns Leid bereitet wird, sondern reine Dummheit und die können wir niemandem als Schlechtes anrechnen. —

Schreibe mir bald und zwar mit der Adresse:

kk. technische Hochschule - Wien.2Siehe die Anm. zum Brief Nr. 3, S. 9f.

Indessen sei gegrüßt.

Dein. unveränderlicher.
Rudolf Steiner.

Überlieferung: Original (3 S., 1 Doppelblatt), RSA;

Druck: Br I, S. 67-69 GA 38 ‹1985›, S. 16-18

Personen und Institutionen: Rudolf Schober; Gotthold Ephraim Lessing; k. k. Technische Hochschule in Wien

Orte: Wien

Zu diesem Brief: Die hintere 1 in der Jahreszahl 1881 ist etwas anders als üblich von Rudolf Steiner geschrieben und könnte eventuell auch als O gelesen werden, sodass in diesem Fall der Brief vom 24. Juli 1880 stammen würde,